Antoinette Flegenheim, geb. Wendt – Passagier in der 1. Klasse
Sie wechselte ihren Namen, heiratete mindestens zwei Mal, machte sich manchmal jünger als sie war – und starb 1943 in Frankfurt am Main, nachdem sich zuvor ihre Spur in München zu verlieren schien … Als Berta Antonia Maria Wendt am 11. Mai 1863 in Himmelpfort in der Nähe von Berlin als Tochter eines königlichen Forst-Hilfsaufsehers geboren wurde, hatte wohl niemand eine Vorstellung davon, dass sie mal in der 1. Klasse der besten Dampfschiffe zwischen Berlin und New York pendeln würde.
Ein entscheidender Schritt in dieses Leben war die Überfahrt mit der Suevia von Hamburg am 5. Oktober 1890 nach New York, wo eine Toni Wendt am 20. Oktober 1890 ankam und ihr Alter mit 22 Jahren angab (in Wirklichkeit war sie 27 Jahre alt!). Am 1. November 1890 heiratete sie Alfred Flegenheimer, der am 28. Oktober 1869 in Frankfurt am Main geboren wurde und am 4. August 1890 mit der Servia in New York angekommen ist. Wo und wie sich die beiden kennenlernten, ist nicht überliefert.
Das frisch verrmählte Ehepaar wohnte in 13072 W 530 in Manhattan, der Beruf von Alfred Flegenheimer war Verleger. Im Jahr 1900 ist die Adresse der Flegenheimers die luxuriöse Wohnanlage „The Dorilton“, 110 Wooster, Manhatten, und Alfred Flegenheimers Beruf ist jetzt „Vizepräsident“ – und aufgrund der Angaben im Zensus wäre Tonys Geburtsjahr 1871 gewesen.
Am 27. Februar 1902 ist Prinz Heinrich auf Einladung der Deutsch-Amerikanischen-Gesellschaft in Manhattan, und Alfred Flegenheimer ist zum Empfang des Prinzen im Arion Club in Manhattan eingeladen. – Am 13. September 1904 wird Alfred Flegenheimer amerikanischer Staatsbürger.
Tony Flegenheimer reiste während dieser Zeit einige Male nach Europa und zurück – zum Beispiel kommt sie am 3. Oktober 1905 mit der Kaiser Wilhelm II in New York an, am 24. März 1906 mit der La Savoie und am 24. Oktober 1906 mit der Kronprinz Wilhelm.
Alfred Flegenheimer starb am 23. November 1907. Seine Leiche wurde zum jüdschen Friedhof nach Frankfurt am Main überführt. Und Tony Flegenheimer war eine reiche Witwe. Zu dieser Zeit änderte sie ihren Namen in Antoinette Flegenheim und wohnte in New York und Charlottenburg bei Berlin. Ihre Charlottenburger Adresse war Windscheidstr. 41.
1912 reiste Antoinette mit ihren Freunden Blanche Greenfield und deren Sohn William durch Europa und besuchte auch für einige Wochen Berlin. Am 10. April 1912 ging diese kleine Reisegruppe in Cherbourg an Bord der Titanic. Das Ticket mit der Nummer 17598 für Antoinette hatte £ 31 13s 8d gekostet. Die Kabine von Antoinette war D 8, d. h. sie wohnte auf dem D-Deck. Während der Überfahrt erlebte Antoinette einige Mängel der Titanic – so beschwerte sie sich z. B. über einen von einem Stromausfall verursachten Heizungsausfall in ihrer Kabine.
Am Abend des 14. April, ein Sonntag, fanden an Bord der Titanic weder Tanz noch Partys statt. Antoinette ging früh in ihre Kabine und schlief gegen 22 Uhr ein. Gegen 23:45 wurde Antoinette wach, weil es einen lauten Schlag gab, dem ein Schleifgeräusch folgte. Die Titanic hatte einen Eisberg gestreift. Das aber wusste Antoinette zu dem Zeitpunkt noch nicht. Sie blieb zehn Minuten wach im Bett, dann fiel ihr auf, dass die Maschinen gestoppt hatten. Das brachte sie dazu, nach dem Steward zu klingeln, der aber nicht kam. Auf dem Gang waren zwei Stewardessen, die die Passagiere baten, die Kabinenfenster zu schließen. Von ihrer Freundin Blanche Greenfield, die sich bereits vollständig angezogen hatte, erfuhr Antoinette nun, wodurch sie geweckt worden war – der Sohn von Blanche Greenfield war im Rauchsalon gewesen und hatte mit einem Freund Karten gespielt, als die Titanic den Eisberg streifte.
William Greenfield und ein Passagier aus Köln, vermutlich Alfred Nourney, forderten Antoinette auf, sich anzuziehen und an Deck zu kommen. Antoinette folgte der dringenden Bitte. Beim Zahlmeister wollte sie dann noch ihre Wertgegenstände abholen, doch das Büro war geschlossen. Ein anderer Passagier gab Antoinette seine Schwimmweste, da Antoinette noch keine angelegt hatte und dann gingen sie auf das Bootsdeck. Ein Steward hatte die Anweisung gegeben, dass alle Frauen nach backbord gehen sollten, doch da eine Tür sich nach steuerbord öffnete, ging Antoinette dort an Deck.
Der 1. Offizier Murdoch leitete an der Seite das Klarmachen der Rettungsboote. Antoinette stieg in das erste Rettungsboot, das gefiert wurde – Boot 7. Decken waren in dem Boot, aber keine Nahrung und auch kein Wasser. Als das Boot auf dem Wasser war, sahen die Insassen, dass die Titanic nach vorne absackte. Und erst bei diesem Anblick wurde ihnen klar, wie gefährlich die Lage sein musste.
Nach dem Untergang der Titanic waren die Schreie der Opfer auch in Boot 7 zu hören und gingen den Insassen an die Nieren. Blanche Greenfield hielt sich die Ohren zu, Alfred Nourney zog seinen Revolver und schoss das Magazin leer.
Die Überlebenden wurden von der Carpathia aufgenommen – dem Zahlmeister der Carpathia gab Antoinette Flegenheim ihr Alter mit 48 Jahren an; das war ihr korrektes Alter.
Besonders die Kälte hatte Antoinette zugesetzt, doch offenbar war sie durch die Erlebnisse beim Untergang der Titanic und der Nacht im Rettungsboot auch psychisch belastet worden, obwohl sie äußerlich unversehrt war.
Nach ihrer Ankunft in New York verweigerte Antoinette jegliche Kommentare oder Aussagen, da in ihrem Rettungsboot ein Zettel mit der Aufforderung herumgereicht worden war, keine Angaben über den Untergang zu machen, und Antoinette fühlte sich daran gebunden. Später jedoch brach sie dennoch ihr Schweigen und berichtete von ihren Erlebnissen.
Am 20. Juni 1912 heiratete Antoinette Flegenheim, geb. Wendt, in Buffalo, New York, den Engländer Paul Elliott Whitehurst. – Paul war am 29. Mai 1912 mit der Minnetonka in New York angekommen, sein Zielort war Toronto, wo er als „Direktor“ tätig war. Er war laut Heiratsurkunde 35 Jahre alt – und seine Frau 42 Jahre.
Weihnachten 1912 richtete Antoinette eine Schadensersatzforderung an die White Star Line für verlorene Kleidung, Schmuckstücke und Bargeld an. Nach ihrer Aufstellung belief sich ihr beim Untergang der Titanic erlittener materieller Verlust auf 18.389 US$, das waren ungefähr £ 3.677. Zur Erinnerung: Für ihr Ticket hatte sie £ 31 13s 8d gezahlt.
Nach Ausbruch des 1. Weltkriegs zog Antoinette nach Den Haag. Als Geburtstag gab sie den 11. Mai 1868 an. In Den Haag blieb sie bis etwa 1920 – und dann zog sie weg, ohne sich abzumelden. Vermutlich war ihr Ziel Deutschland. Auch die Ehe mit Paul Elliott Whitehurst wurde vermutlich geschieden, denn Paul heiratete 1932 ein zweites Mal. Raum für Spekulation bleibt dadurch, dass Pauls Nachfahren von seiner Ehe mit Antoinette nichts wussten, demnach die erste Ehe von Paul in der Familie nicht überliefert wurde.
Antoinette meldete sich am 24.03.1923 in München in der Nibelungenstra0e 90 (heute: Arnulfstraße 300) an. Im Münchener Melderegister wurde ihr Geburtstag mit 11.05.1863 notiert. Anscheinend war Antoinette dann für viele Jahre in München sesshaft. Doch am 20. September 1938 meldete sie sich in der Menzinger Str. 17 (heute Hausnummer 71) an und am 10. Juni 1939 in der Kaulbachstraße.
Danach verliert sich die Spur der mittlerweile 76 Jahre alten Antoinette Whitehurst, verwitwete Flegenheim, geborene Wendt – bis sie 1941 in Frankfurt am Main in der Guiolettstr. 34 wieder auftaucht. Am 8. April 1943 verstarb Antoinette White-Hurst, verwitwete Flegenheim, geborene Wendt, im Jahr 1912 Passagierin der 1. Klasse der Titanic, in Frankfurt am Main.
Ein Berliner auf der Spur der Berlinerin auf der Titanic ist Gerhard Schmidt-Grillmeier. Über seine Forschungen und Antoinette berichtete „Der Tagesspiegel“:
Charlottenburgerin überlebte den Untergang der Titanic
Quellen:
Schmidt, Gerhard (2007), „Die Berlinerin auf der Titanic. Bisherige Ergebnisse der Forschung nach Antoinette Flegenheim(er), geb. Liche“, Der Navigator, Nr. 4, 10. Jahrgang, S. 6 f.
Schmidt-Grillmeier, Gerhard (2010), „Die Berlinerin auf der Titanic. Weitere Ergebnisse meiner Forschungen zu Antoinette Flegenheimer aus Charlottenburg, Windscheidstr. 41“, Der Navigator, Nr. 50, S. 22 ff.
Schmidt-Grillmeier, Gerhard (2011), „Neue Erkenntnisse zur deutschstämmigen Antoinette Flegenheim. Update zum Artikel ‚Die Berlinerin auf der Titanic‘ in Ausgabe 50, Mai 2010“, Der Navigator, Nr. 56, S 6 ff.
Schmidt-Grillmeier, Gerhard (2016), „Antoinette Flegenheim(er), geb. Berta Antonia Maria Wendt, geschiedene Antoinette White-Hurst“, Der Navigator, Nr 73, S. 19 ff.