Die Entdeckung der Britannic-Orgel

Im Museum für Musikautomaten Seewen, Schweiz, 15 km südlich von Basel ist man sicher, die lange vermisste Orgel der Britannic – Schwesterschiff der Titanic – entdeckt zu haben.

Das Instrument, welches auf Zeichnungen dokumentiert ist, war nahezu ein Jahrhundert lang verschwunden. Orgelbauer reinigten drei normalerweise nicht zugängliche Stellen der Windlade der Orgel und fanden dabei dreimal den gleichen Hinweis eingestanzt: Britanik.

Das Museum war der Meinung, dass die Orgel aus den Jahren 1912 bis 1914 stammen müsste, doch es fehlten die Hinweise auf vor 1920. Historische Welte-Kataloge im wissenschaftlichen Archiv zeigen aber ein Foto einer Orgel im Treppenhaus der Britannic. Der Australische Organist David Rumsey, der die Restaurierung betreut, ist gleicher Meinung: “Es handelt sich um eine Welte-Philharmonie – eine pneumatische Orgel welche sowohl von einem Organisten als auch mit einer Papierrolle gespielt werden kann. Die Register, Geschichte und Bauart der Orgel deuten auf eine Datierung um 1913 hin. Die Orgel ist nahezu baugleich mit der Aufnahmeorgel M. Welte & Söhne in Freiburg im Breisgau und wenn sie – wie nun sicher für die Britannic gebaut wurde – dann dürfte sie im Frühjahr 1914 auch dort eingebaut worden sein. Da sich aber im Sommer 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Rahmenbedingungen erheblich änderten und das Schiff zum Lazarettschiff umgerüstet wurde, wurde die Orgel von der Firma Welte wohl wieder ausgebaut und eingelagert.

In den letzten Jahren gab es immer wieder Spekulationen über die Orgeln auf den Schwesterschiffen der Olympic-Klasse. Die im Mai 1911 fertig gestellte Olympic wurde wohl noch ganz ohne Orgel geplant. Das Schiff wurde von den Reisenden der Nordatlantikroute jedoch so sehr geschätzt, dass man sich für die im Frühjahr 1912 fertig gestellte Titanic eine Steigerung des Komforts einfallen lassen wollte. Wahrscheinlich zu dieser Zeit ging die Bestellung für eine pneumatische Orgel an die Firma Welte in Freiburg, die mit ihren Instrumenten auf den internationalen Weltausstellungen der damaligen Zeit bereits Weltruhm erlangt hatte. Vielleicht gab es Pläne für den Einbau einer Welte-Philharmonie-Orgel, der neuesten Errungenschaft der Firma zu dieser Zeit. Doch in der kurzen Zeit zwischen Bestellungseingang bei Welte und Jungfernfahrt der Titanic konnte wohl nur das Projekt einer kleinen Salonorgel zu realisieren versucht werden. Auch diese Orgel wurde jedoch nicht rechtzeitig fertig gestellt, so dass sie nie auf hoher See aufspielte. Die so genannte Titanic-Orgel – ein Orchestrion ohne Spieltisch – ist heute im Deutschen Musikautomatenmuseum in Bruchsal zu sehen.

Eine weitere Steigerung plante man dann für das dritte Schwesterschiff der Olympic-Klasse, welches ursprünglich auf den Namen Gigantic getauft werden sollte. Nach dem Untergang der Titanic am 15. April 1912 wurde dieser Ozeanriese jedoch eilig in Britannic umbenannt. Noch vor der Titanic-Katastrophe fand im Dezember 1911 die Kiellegung dieses dritten Schiffes gleicher Größenordnung statt. Der Stapellauf verzögerte sich nach der Titanic– Katastrophe aber ins Jahr 1914. In dieser Zeit wurden wohl die Pläne nochmals überarbeitet und die Sicherheit des Schiffes nochmals diskutiert. An den Plänen für den Einbau einer Welte-Philharmonie-Orgel dürfte sich dabei aber nicht viel geändert haben, so dass angenommen werden kann, dass bei der Firma Welte bereits im Jahre 1913 an der Orgel der Britannic gearbeitet wurde. Im Treppenhaus der ersten Klasse war eine große, über zwei Stockwerke reichende Orgel vorgesehen, die zur Erbauung und Unterhaltung der Passagiere aufspielen sollte. Es könnte im übrigen durchaus möglich sein, dass der Einbau einer Welte-Philharmonie-Orgel auch für das identische Treppenhaus der Titanic angedacht worden war, doch wegen des engen Zeitplanes und des Untergangs des Schiffes konnte dieser Plan nicht zur Ausführung gelangen. Welte-Philharmonie-Orgeln gelangten zudem erst ab 1911 in den Verkauf und erst ab 1912 konnten erste Modelle wirklich ausgeliefert werden.

Ende Juli 1914 brach der Erste Weltkrieg aus und die britische Admiralität beschlagnahmte alle großen Passagierschiffe, um sie für kriegswichtige Zwecke als Truppentransporter oder Lazarettschiffe einzusetzen. Auch die Britannic wurde bis Dezember 1915 umgerüstet und danach rund elf Monate im Kriegsdienst eingesetzt. Als schwimmendes Lazarettschiff lief sie am 21. November 1916 vor der Insel Kea in der Ägäis auf eine deutsche Seemine und sank ohne auch nur einen einzigen zivilen Passagier befördert oder ein einziges Mal auf der ihr zugedachten Nordatlantikroute verkehrt zu haben. Ein Foto aus dieser Zeit im Kriegsdienst zeigt das Treppenhaus der Britannic im absoluten Rohbauzustand mit nackten, weiß gestrichenen Metallwänden. Holzteile vom Treppenhaus des Dampfers tauchten in späteren Jahren jedoch in Sammlerkreisen auf und weisen darauf hin, dass der Innenausbau der Britannic zur Zeit der Beschlagnahmung im Juli 1914 schon weit fortgeschritten war. Und aus dem Sommer 1914 stammen wohl auch das Foto im Katalog der Firma Welte und die entsprechenden Zeichnungen, welche belegen, dass auf der Britannic ein Instrument in der Größenordnung einer Welte-Philharmonie-Orgel eingebaut war. Foto und Zeichnungen beweisen die Existenz der Orgel, weitere Hinweise und eine entsprechende Orgel konnten jedoch lange Zeit nicht gefunden werden.

Die Firma Welte spricht von einer „Welte-Philharmonie-Orgel an Bord eines großen englischen Dampfers“ und nennt die Britannic nicht namentlich. Dies wohl deshalb, weil die Orgel im Spätsommer 1914 wieder ausgebaut und eingelagert werden musste und die Britannic nie als Passagierdampfer unterwegs war. Da die Britannic gesunken war, konnte die Orgel nach dem Krieg nicht wie geplant wieder eingebaut werden. Ihre Spur verliert sich. Sowohl von Seiten der Erbauer des Schiffes, Harland & Wolff im irischen Belfast, als auch von Seiten der Firma Welte sind keine Unterlagen zum Verbleib der Orgel aufzufinden.

Um 1920 ließ sich der Stuttgarter Fotoapparat-Fabrikant August Nagel (1882-1943) eine Welte Philharmonie-Orgel in die herrschaftliche Villa einbauen. Als großer Musikliebhaber leistete er sich eine Orgel der weltbekannten Firma aus dem benachbarten Freiburg. Instrumente dieser Art waren auch in Villen von Industriemagnaten oder in den Residenzen der Aristokratie der damaligen Zeit, ein außergewöhnlicher Luxus, doch gab es eine nicht geringe Anzahl vergleichbarer Orgeln, wie Kundenlisten der Firma Welte zeigen. Um 1935 gab Nagel das Instrument aus unbekannten Gründen wieder an den Freiburger Hersteller zurück. Es wurde in der Folge im Jahre 1937 im Festsaal des Glühlampen-Herstellers Radium in Wipperfürth im Rheinland eingebaut. Der damals junge Orgelbauer Werner Bosch (1916-1992) ergänzte die Orgel im Dienste der Firma Welte um einige Register und installierte sie in Wipperfürth. Dort blieb sie bis in die 1960er Jahre in Gebrauch und wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der endgültigen Einstellung des Betriebs der Firma Welte vom nun selbständigen Orgelbauer Bosch betreut. Im Jahre 1961 beispielsweise benutzte ein Schallplattenproduzent die noch funktionierende Welte-Philharmonie-Orgel in Wipperfürth zur Aufnahme von Schallplatten mit vom Komponisten Max Reger im Jahre 1913 an der Freiburger Aufnahmeorgel eingespielten Musikrollen. Diese wurden unter dem Titel „Max Reger spielt eigene Orgelwerke“ bei der Firma Electrola in Köln veröffentlicht (1961: 1C 053-28925) und erschienen später als „Regel spielt Reger“ auch bei Columbia. Das Instrument stellte sich als bestens geeignet für diese Aufnahmen heraus, entsprach es doch in seiner Registrierung weitgehend der Aufnahme-Orgel von Freiburg, auf welcher Reger gespielt hatte. Als nach einem Wechsel in der Firmenleitung in Wipperfürth der Festsaal zu einem Lagerraum umgebaut werden sollte, suchte man lange Zeit vergeblich nach einem Käufer für die Orgel. Schließlich wurde Heinrich Weiß, der Gründer des Museums für Musikautomaten Seewen, auf das Instrument aufmerksam und erwarb es für seine Sammlung. Nach der Überführung in die Schweiz investierte Weiß rund 1500 Stunden in den Aufbau der Orgel und ließ sie durch Werner Bosch intonieren. Am 30. Mai 1970 fand in Seewen die feierliche Einweihung der Orgel statt. Bosch selbst war von der Sammlung in Seewen und der Rettung „seiner“ Welte-Philharmonie-Orgel so angetan, dass er Weiß 1230 Mutterrollen der Firma Welte zum Kauf anbot, welche sich aus dem Nachlass der Firma in seinem Besitz befanden. So kommt es, dass das Museum für Musikautomaten Seewen heute nicht nur ein außerordentliches Instrument mit einer außerordentlichen Geschichte besitzt, sondern auch entsprechende Originalaufnahmen dazu in der Sammlung des Museums vorhanden sind. Neben Max Reger wurden auf den Musikrollen damals namhafte Künstler wie Harry Goss-Custard, Edwin Lemare, Alfred Hollins, Joseph Bonnet, William Wolstenholme, Eugène Gigout, Clarence Eddy, Marco Enrico Bossi, Karl Straube oder Günter Ramin verewigt.

Im Zuge von Renovationsarbeiten musste die Orgel im Jahre 1998 nach rund dreißig Jahren Dienst ausgebaut und eingelagert werden. Das Museum wurde damals renoviert und erweitert und im Jahre 2000 mit zusätzlichen Räumlichkeiten wiedereröffnet. Die große Attraktion des alten Museums blieb jedoch eingelagert. Eine Restaurierung der Orgel wurde erst im Jahre 2006 in Angriff genommen und soll im Spätsommer 2007 abgeschlossen werden. Und im Zuge dieser Renovationsarbeiten entdeckte man nun die eingestanzten Hinweise auf die Britannic. Die Orgel wird im Herbst 2007 unter anderem an einem Tag der offenen Tür und an zwei Konzertabenden einer breiteren Öffentlichkeit wieder vorgestellt. Sie wird auch im neuen Museum für Musikautomaten und an neuem Ort – nämlich im großen KlangKunst-Saal – ein zentraler Teil der Sammlung bleiben. Die Orgel wird zum Bestandteil einer neu konzipierten Führung und am neuen Standort vermehrt auch für Konzerte genutzt. Die restaurierte Welte-Philharmonie-Orgel des Museums für Musikautomaten bzw. der Britannic von 1913/14 mit entsprechenden Originalaufnahmen ist musikgeschichtlich ein äußerst wertvolles Instrument. Die Musikrollen können auf einem nahezu authentischen Instrument wiedergegeben werden, was Rückschlüsse auf die Interpretation von Musikwerken der damaligen Zeit erlaubt – Rückschlüsse auf die Aufführungspraxis einer Zeit, in welcher noch fast keine Orgelaufnahmen für Schallplatten gemacht wurden.

Orgel

Der eingestanzte Hinweis auf die Britannic, der jahrzehntelang verborgen geblieben war.

David Rumsey ist überzeugt: „Alles weist darauf hin, dass diese Orgel auf der Britannic ihren Dienst hätte verrichten sollen, sie scheint im Sommer 1914 jedoch wieder ausgebaut und bei Welte in Freiburg eingelagert worden zu sein – dort erlebte sie den Untergang des Schiffes und das Ende des Ersten Weltkriegs. Vom Umfang her war es eine recht viel größere Orgel als diejenige, die wir von der Titanic kennen. Orgeln auf Schiffen begannen mit dem Organisten-Kapitän Nemo im Roman Zwanzigtausend Meilen unter Meer von Jules Verne im Jahre 1869/70. An und für sich aber wurde in Wirklichkeit nur zweimal versucht, diese Fiktion in die Wirklichkeit umzusetzen, dies etwa 40 Jahre später für Titanic und Britannic. Es ist bemerkenswert, das beide Orgeln es geschafft haben, irgendwie ihrem Schicksal zu entgehen. Anstatt auf dem Meeresgrund zu liegen, finden sich beide nun auf trockenem Land wieder, weit entfernt vom Griff der Ozeane. Das Museum in Seewen liegt 610 Meter über Meer!“

Dr. Christoph E. Haenggi
Museum für Musikautomaten
CH-4206 Seewen
Schweiz