Vom Schwarzwald auf den Meeresgrund

In der vor 100 Jahren gesunkenen TITANIC starb auch ein Südbadener, der Mythos um die Schiffsorgel aus Freiburg dagegen lebt

von Jens Kitzler

Am Mittag des 10. April 1912 steht Leo Zimmermann an der Reling und schaut auf den Hafen von Southampton. Ein letzter Blick auf die alte Welt, die der 29-Jährige endlich verlassen will, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Auf die Reise gemacht hat er sich schon viele Tage zuvor, allein der Weg von seinem Heimatdorf Todtmoos im Hochschwarzwald ins ferne England war damals schon eine mittlere Weltreise. Aber wie viele andere Auswanderer auch, setzt Leo Zimmermann alles daran, den engen Tälern des Hochschwarzwalds zu entfliehen, die den dort wohnenden Menschen kaum genügend Lebensgrundlage bieten konnten. Wie er nach England gelangte, lässt sich nicht rekonstruieren – womöglich nahm er die alte Schmalspurbahn von Todtnau über Zell in Richtung Rhein, um dort auf die Fernstrecke zu gelangen. Sein Schiffsticket, das steht fest, hatte er für 250 Mark bei Kaiser & Cie in Basel erworben, einer Auswandereragentur, wie es sie damals überall gab. Sie hatte eine Überfahrt auf einem Schiff der White-Star-Linie im Angebot gehabt – schneller als mit dem neuen Dampfer, so hatte man Zimmermannversichert, konnte man nicht nach New York kommen. Das Schiff hieß „Titanic“. Dem jungen Schwarzwälder war das recht. Für ihn war Amerika nur eine Zwischenetappe auf dem Weg ins gelobte Land: Kanada. In der Provinz Saskatchewan wollte er ein neues Leben aufbauen. Und die Titanic war schnell. In der Nacht vom14. auf den 15. April war der Auswanderer Kanada bereits näher als der alten Welt. Dann rammte das Schiff einen Eisberg, und die von so viel Hoffnung getriebene Reise des Schwarzwälders endete jäh mit dem Tod im eiskalten Nordatlantik.
Dafür war der Mann aus dem Todtmooser Ortsteil Weg fortan Teil der Geschichte der berühmtesten Schiffskatastrophe der Welt. Um kein anderes Unglück ist je ein ähnlicher Kult entstanden, neben Behörden und Wissenschaftlern wurde der Untergang der Titanic auch von Abertausenden privaten Historikern aufbereitet, im Internet liefern Fanseiten jedes nur erdenkliche Detail zum Untergang, und James Camerons Film, einer von insgesamt zwölf Verfilmungen, spielt dieser Tage in der 3D-Version schon zum zweiten Mal Millionen an Einnahmen ein. Wer glaubt, dass folglich in Todtmoos jeder die Geschichte des einheimischen Titanic-Opfers kennen müsste, gar vielleicht irgendwo ein Denkmal stünde, der irrt. Sonderlich bekannt ist das Schicksal des Leo Zimmermann nicht. Der Wärter des Heimatmuseums? Hat noch nie davon gehört. „Isch halt lang her“. Selbst der noch lebende Neffe des Untergegangenen, heute 85 Jahre alt, bekundet auf Anfrage kurz, nichts zu wissen und auch nichts mehr zur Aufarbeitung beitragen zu wollen. Fast wirkt es so, als hätten die Todtmooser einst aus dem Schicksal des Titanic-Reisenden geschlossen, dass ein Flirt mit der großen weiten Welt nur Gefahr bedeutet – und drum beschlossen, dass man über solche Dinge besser gar nicht erst redete.
Nicht alle natürlich. Beim Musikverein Todtmoos-Weg findet sich ein Hinweis auf Leo Zimmermann, der Ende des 19. Jahrhunderts mal Mitglied war. Und im Heimatmuseum liegt das Schriftstück des Heimatforschers Ludwig Kühner, der vor Jahren im Staatsarchiv Freiburg auf Akten zum Fall des Auswanderers gestoßen war. Schriftstücke, „die davon erzählen, wie die Angehörigen zu Hause in ihrer kleinen, abgeschiedenen Welt von der fernen, weiten Welt bitter enttäuscht wurden“, wie Kühner schreibt. Am 4. Juni bekommen Zimmermanns Vater Josef und sein Bruder Mathäus über das Großherzogliche Bezirksamt St. Blasien die Nachricht vom Tod Leo Zimmermanns, im August folgt ein Formular für eventuelle Schadensersatzansprüche. Auf die wollen die Hinterbliebenen in Todtmoos-Weg nicht verzichten. Ihre aufgestellte Liste umfasst Geld für Reisebedarf, den man dem Ertrunkenen mitgegeben habe, den Gegenwert für das Ticket und – der größte Posten – eine Abfindung für den Vater, für dessen Lebensunterhalt der auswandernde Sohn angeblich hätte aufkommen sollen. Die Summe: 8050 Mark. „Hinzusetzen wollen wir noch, dass der Vater und alle Geschwister arme Leute sind und dass die angeforderte Summe gewiss niedrig ist“, schrieben die Zimmermanns im Begleitschreiben. Vergeblich. Am 8. April 1913, fast ein Jahr nach dem Untergang der Titanic, trifft wieder ein Schreiben im Bezirksamt St. Blasien ein. „Nach einer Mitteilung des Kaiserlichen Generalkonsulates in London hat das Gesuch des Matthäus Zimmermann in Todtmoos keine Berücksichtigung gefunden.“ Nur dem Vater wurde ein Betrag zugesprochen: 805,35 Mark. Wer in der schwerfälligen Bürokratiemaschine zwischen Großherzoglichem Amt, Außenministerium, Konsulat und der Reederei was aus welchen Gründen entschieden hatte, erfuhren die Zimmermanns nie. Sie ließen es dabei bewenden. „Was kann man als kleiner armer Mann dort draußen in der großen Welt auch ausrichten“, schloss Heimatforscher Ludwig Kühner Jahrzehnte später.

Auch der Freiburger Karl Bockisch soll sich, das ist nur mündlich überliefert, an Bord der Titanic befunden haben, bis ihn kurz vor der Abreise ein Telegramm wieder in die Heimat beorderte. Bockisch war Teilhaber der Freiburger Firma Welte, die die damals auf dem gesamten Erdball bekannten, selbstspielenden Orgeln und Klaviere herstellte – Meisterwerke der Ingenieurskunst und vor der Zeit von Plattenspieler und Verstärker die einzige Möglichkeit, einen Saal zu beschallen, ohne ein Orchester beschäftigen zu müssen. Bockisch, so geht die Geschichte weiter, hatte die Einladung zur Jungfernfahrt der Titanic bekommen, weil auf dem Schiff auch eine Welte-Orgel eingebaut werden sollte. Im Jahre 1911 soll in Freiburg eine Bestellung der White Star Line für zwei der Instrumente eingegangen sein. Eins war für die Titanic und eines für das Schwesterschiff Britannic gedacht. Allerdings erreichte die für die Titanic vorgesehene Orgel England nicht rechtzeitig – man plante folglich, das Instrument später einzubauen. So erzählt man die Geschichte auch im Deutschen Musikautomaten- Museum in Bruchsal, wo heute die Orgel zu besichtigen ist, die angeblich für die Titanic gedacht war. Und so feiert man vom 30. März bis 30. September dort die Orgel mit einer Sonderausstellung. Ohne allerdings einen echten Beweis zu haben, dass die Geschichte auch stimmt. „Es gibt aber Indizien“, sagt Kuratorin Brigitte Heck. Der Sammler Jan Brauners kaufte das Instrument 1972 von einem schwäbischen Fabrikanten namens Heinrich Rieger. „Und der soll bestätigt haben, er habe die Orgel in Freiburg als Rückläufer von der White Star Line gekauft.“ Auch die Tochter des 1988 verstorbenen Organisten und ehemaligen Welte-Mitarbeiter Kurt Binninger, so erklärt Brigitte Heck, habe eine entsprechende Aussage ihres Vaters überliefert. Und dann arbeite in der Orgel ein Motor, der mit Gleichstrom arbeite –wie er nicht in Häusern, aber in Schiffen aus der Steckdose kam. Wäre die Orgel tatsächlich an Bord gewesen, hätte das automatische Instrument dann den Untergang bis zum Schluss musikalisch begleitet, wie es auch die Bordkapelle getan haben soll?
Leo Zimmermann allerdings wäre in den Genuss des wie er aus Südbaden stammenden Musikgeräts wahrscheinlich trotzdem nicht gekommen – als Reisender der dritten Klasse war er einige Decks tiefer einquartiert, weit weg von den prunkvollen Ballsälen. Und den Rettungsbooten.